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RHAPSODIEN 002 - Teil I

  • 8. Okt.
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 29. Okt.

Über damals, über Identität und wie Musik diese beeinflusst und prägt. Oktober 2025

Sarandas Kolumne erzählt musikalische Geschichten aus ihrem Leben. Alltag, aber nicht alltäglich!


Rhapsodien 001, Titelbild, Illustration Portrait Saranda


„Weifft du nof damalf... alf...?“ fragt mich eine Freundin, den Mund voll mit Meze von unserem Lieblingslibanesen - „was?“ frage ich zurück. „Weisst du noch damals, als es super wichtig war, den eigenen Musikgeschmack so richtig zu repräsentieren? Ich meine so richtig – keine Kompromisse!“

„Hm, j-ja, so ungefähr!“ lache ich nervös, wohl wissend, dass sie damit die Büchse der Pandora öffnet.

Aus meinem Unterbewusstsein steigen schreckliche Bilder hoch von überbreiten Hüfthosen und viel zu tiefen Ausschnitten, von Statement-Ketten, Rosenkränzen, Plastikschnullern und anderen Schreckgespenstern. Dinge, die ich längst abgehakt glaubte und in den tiefsten Löchern meiner Erinnerungen vergraben hatte.

Ich schüttle die Gedanken schnell ab, nehme einen grossen Bissen, wie um dem aktiven Verdrängungsmechanismus noch eine chiligetränkte Portion nach zu schaufeln – mit Schmackes halt.


«...arabische Chansons, Bob Marley, Soul und Gospel, Opern, anatolische Hirtenmusik, Italo-Pop, Massive Attack und Loveparade Trancehits»



„Mmmmh“ frage ich „wie kommst du überhaupt darauf?“

Sie lächelt. Als eine meiner ältesten Freundinnen, hat sie so ziemlich jeden meiner Entwicklungsschritte mitgemacht und ich weiss auch genau, worauf sie hinaus will. Musik war für mich lange Zeit identitätsstiftend. Ein Lied war nicht einfach nur ein Lied, sondern ein Grund, die Alben zu kaufen, die Booklets (ja, so alt bin ich schon) zu durchstöbern, die Intros und die Outros zu studieren, jeden Fetzen Information über die Band/DJ etc. zu finden und sie genauestens zu dokumentieren, mich entsprechend zu kleiden und – nerdigerweise – fast schon missionarische Überzeugungsarbeit zu leisten, wieso dieser DJ oder diese Band oder dieser Musikstil genau das ist, was der Welt gefehlt hat um endlich besser zu werden.



Ein bisschen hat sie ja schon recht damit, mich aufzuziehen. Es war bisweilen sicher eine nervliche Zerreissprobe, meinen ellenlangen Vorträgen zuzuhören, dennoch komme ich nicht umhin, ihr dafür dankbar zu sein denn, sie bietet mir etwas neues, worauf ich mich – mit Freude - stürzen kann.


Portrait Saranda Zeciri
Saranda Zeciri - Autorin

Als ich nach Hause komme, satt und leicht beschwipst, beschliesse ich, alle Stationen meines musikalischen Erwachens noch einmal durchzugehen und schonungslos alles heraus zu kramen – sei es noch so peinlich. Um die Exkursion zu unterstützen, stelle ich meine (private) Playlist ein, welche ich niemals, und ich meine niemals, irgendjemandem ausserhalb meiner Familie zeigen würde. Aus Gründen!


Am Anfang war... meine Mutter, welche aus Südeuropa stammt, und mein Vater, welcher aus Südosteuropa stammt. Meine Mama, hat viele tolle Eigenschaften, eine davon ist, in einer ohrenbetäubenden Lautstärke selbst aufgenommene Kassetten - und später selbst gebrannte CD`s - aus schlechten Boxen zu schmettern, während sie uns etwas zu Mittag kocht. Wahlweise arabische Chansons, Bob Marley, sämtliche Soul und Gospel Legenden, Opern, anatolische Hirtenmusik, Italo-Pop, Massive Attack und Loveparade Trancehits.


Ich konnte die Stimmung meiner Mutter daran erkennen, welche Musik mir entgegenschallte, wenn ich aus der Schule nach Hause gekommen bin. Das, und der Umstand, dass ich meine CD`s irgendwann bei meiner Mutter wieder zurückholen musste, weil sie diese aus meinen Zimmer geklaut hatte, hat wesentlich zu meiner musikalischen Prägung beigetragen. Der Beitrag meines Vaters in sonoren Fragen indes, war weniger direkt, dieser ergab sich vor allem dadurch, dass wir von klein auf an etlichen Hochzeiten mit Livemusik dabei waren. Dazu muss man wissen, dass Hochzeiten in Südosteuropa immer riesige Feste sind, die sich über mehrere Tage hinziehen.

«...sie (die Roma) – wie alle grossartigen Musiker – verstanden haben, dass Musik eine ganz eigene Sprache darstellt.»



Die Livebands in diesem Teil der Welt bestehen zum grössten Teil aus Mitgliedern der Roma, welche als die besten Musiker gelten, weil sie versiert sind mit so ziemlich jedem Instrument und weil sie es schaffen, frei von der Leber die krasseste Tanzmusik und die traurigsten Klagelieder zu spielen, in jeder Sprache die existiert. Ich glaube das liegt daran, dass sie – wie alle grossartigen Musiker – verstanden haben, dass Musik eine ganz eigene (und für sie, einfach eine weitere) Sprache darstellt.



Was diese Erfahrung als Kind so grossartig macht ist, dass du ein ganz natürlicher Teil dieses Tumults bist.

Du tanzt, weinst, lachst und schläfst an diesem, verrauchten, lauten, chaotischen Ort, während neben dir jemand seine Trommel bis zum Zerreissen misshandelt. Du kriegst jede Emotion mit, weil es für Kinder keine extra Räume oder Tische oder Ähnliches gibt. Die Kinder stellen keinen Störfaktor dar, sind überall dabei – so wie alle anderen auch dabei sind. Was ich damals am liebsten mochte, waren die Gesangsrituale – genauer; die mehrstimmigen Gesänge der Frauen. Hierzu setzt sich eine Gruppe von Frauen am Ende des ersten Festtages zusammen mit den Kindern vor die Tür des Brautpaares, um klatschend und singend die Eheleute beim Vollzug der Ehe spielerisch zu stören. Diese wiederum versuchen, die Gruppe mit Süssigkeiten, die sie vor die Tür werfen, für einige Minuten vom Singen abzuhalten.

Es endet meist damit, dass sich alle Familienmitglieder zusammenfinden, Süssigkeiten essen und alte, lustige Geschichten erzählt werden.

Auch das, in sich, ein uraltes Ritual.


Als Kind erkennst du wohl das Muster und die Struktur, welche diese Rituale vorgeben. Sie dienen als Orientierung, aber du verstehst die Gründe dafür nicht wirklich.

Du verstehst nicht wieso den Babys die immer gleichen Wiegenlieder vorgesungen werden, du hörst nicht auf die Texte der Gesänge und du verstehst nicht, wieso einige Lieder nur von Frauen, andere nur von Männern gesungen werden, wieso der Onkel, der nie eine Miene verzieht, plötzlich aus seinem Stuhl aufspringt, lauthals mitsingt und überraschend leichtfüssig im Kreis tanzt (Nein, Alkohol ist es nicht. Der ist verboten in meinem Kulturkreis). All diese Dinge sind keine Sache der Logik, aber du verstehst genau, wie du dich in diesem Augenblick fühlst und du begreifst die Kraft, die in der Musik steckt.



«Identität ist immer auch, was um uns herum geschieht, ist immer auch, wer die anderen sind – oder eben nicht sind.»



Der Taumel dieser Erfahrungen und das Geschenk beider Kulturen meiner Eltern und ihrer Liebe zur Musik, prägte und formte mich, und als ich schliesslich alt genug war, alles doof zu finden, was meine Eltern gut finden und die wichtigste Regel war, dass ich mich abgrenzen musste, begann meine kreative Suche nach Identität. Was über Hip-Hop, R´n´B und andere musikalische Tief- und Höhenflüge führte. Ich begann mich politisch zu interessieren, die Texte zu lesen und auf Anti-Kriegs-Demos zu gehen. Das wiederum mündete in zahlreiche, verkiffte Diskussionsabende, an welchen am Ende keiner mehr wusste, worum es eigentlich wirklich ging, sich aber rege über Musik im allgemeinen ausgetauscht wurde und ich in die Welt des Trip-Hop, Drum´n´Bass, Punk und mehr eingeführt wurde. Der Geschmack wurde anspruchsvoller, die CD-Sammlung breiter und alles, was Mainstream war, zum Endgegner (ähem) und als ich - finally – das legale Clubalter erreicht hatte, wendete ich mich der House- und Technoszene zu und erlebte ein erneutes Erwachen oder viel mehr ein erneutes Nach-Hause-Kommen.

Was ich dort vorfand, war ganz neu und trotzdem sehr alt – und ich kannte dieses Gefühl aus meiner Kindheit. Sicher, es war ruchloser, dunkler, komplexer, aber es war bekannt. Eine Neuinterpretation dessen, was Menschen schon seit jeher bewegt.



In der Vielfältigkeit des Techno erlebte ich erneut, das Diversität eine Superkraft ist und das Abgrenzung auch anders funktionieren kann. Auf der Tanzfläche gibst du deine Identität ab, armer Schlucker oder reicher Sack, Briefmarkensammler oder Bühnenlegende, es spielt schlicht keine Rolle. Was du gestern warst, interessiert keinen, was du morgen bist, ist nicht wichtig. Das einzige was zählt ist, du und ich und die Musik.


Ich erkannte dass Musik und die Emotion die wir damit verbinden, zu einem grossen Teil Grund, Weg und Konsequenz aller menschlichen Bemühungen ist. Identität ist immer auch, was um uns herum geschieht, ist immer auch, wer die anderen sind - oder eben nicht sind.


Ich finde ein verblichenes Foto meine Freundin und mir und sende es ihr, während ich leise das steinalte Wiegenlied vor mich hin singe. Wir sehen toll aus, in unseren zu grossen Jeans, mit den Rosenkränzen und dem peinlichen Make-Up!


Weisst du noch? „In The Beginning There Was... Jack!“ Zeitloser Track. „Am Anfang war... das Wort/der Klang!“ Zeitlose Worte.


Weiter gehts beim nächsten Mal mit Teil 2.



DJ? Produzent:in? Autor:in? Fotograf:in? Melde dich mit deinem kreativen Input bei uns.




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