RHAPSODIEN 003
- vor 2 Tagen
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Über Kontext, künstliche Intelligenz und Kultur.
Dezember 2025
Sarandas Kolumne erzählt musikalische Geschichten aus ihrem Leben. Alltag, aber nicht alltäglich!

Ich schreibe diese Kolumne an einem grauen Wintermorgen. Der Regen hat den ersten Schnee wieder weg gewaschen und es ist leicht, in graue Trostlosigkeit zu verfallen.
Der sonst so sprudelnde, kreative Fluss in mir fühlt sich an, als wäre er von einer feinen Eisdecke überzogen. Im Hintergrund läuft schwermütige Musik. Kein sonniger Reggae oder harter Techno. Keine Tanzmusik oder sanfte, erhebende Töne.
Genervt von meiner eigenen Lethargie stehe ich auf und wage es, im Vorbeigehen einen kurzen Blick in den Spiegel zu werfen. Durch das, in grossen Lettern draufgekritzelte Wort „K O N T E X T“, starrt mir mein müdes und angespanntes Gesicht entgegen.
„Kontext“ sage ich laut und laufe durch die Wohnung, zurück an den Küchentisch, wo ein blinkender Cursor auf einem Bildschirm mich erwartet. Tick, Tick, Tick.
„Kontext“ wiederhole ich leise und warte darauf, dass die Muse mich küsst.
Nichts. Mist!
Wenn ich aus dem Fenster blicke, finde ich wenig Ablenkung und wenig Anreiz von aussen. Das Licht ist rar und kühl - viel Zeit für die inneren Geister, im Schutz des Zwielichts unter den Möbeln und hinter den Schränken hervorzukommen. Manchmal setzen sie sich sanft und leise zu mir an den Tisch, manchmal legen sie sich wie Staub auf meine liebevoll aufgestellten Erinnerungsstücke, manchmal schauen sie mich nur fragend an und manchmal fühlen sie sich an wie Eis auf einem sonst sprudelnden Fluss.
Eigentlich mag ich diese Zeit. Ich mag es, dass der Blick mehr nach innen gerichtet ist. Ich mag sogar die bittersüsse Agonie, die sich dabei einstellt. Ein Klagen, welches sich aus meiner Brust, einen Weg durch meine Finger auf ein Stück Papier bahnen will. Oder eine Träne die sich löst, wegen eines fast unhörbaren Wechsels des Beats in einem Musikstück, der an Perfektion nicht zu überbieten ist.
«Durch das, in grossen Lettern draufgekritzelte Wort KONTEXT, starrt mir mein müdes und angespanntes Gesicht entgegen.»
Da sind auch die Ängste, welche im Schattenspiel des Winters oft viel grösser aussehen, als sie es im Licht und der Wärme des Sommers wären. Zum Beispiel die gefühlt undefinierbare, aber spürbare Bedrohung durch digitale Tech-Riesen, welche ein „Wesen“ erschaffen, dass für mich kaum greifbar ist.
Künstliche Intelligenz, die Hydra der Moderne. Ein nimmersattes Etwas, das seine Arme nach allem ausstreckt, was je in den Äther gegeben wurde. Kunst, als ein Kulminationspunkt der menschlichen Erfahrung, wird kopiert und wieder kopiert. Wo man es schafft, ihr einen Kopf abzuschlagen, wachsen zwei nach.
Da ist die Ohnmacht, die sich wie schwere Gewichte an meine Glieder hängt.
„Kontext“ flüstert es in mir.
Mein Kiefer spannt sich an, meine Finger werden steif.
Wut! Sie sprudelt durch meine Adern.
„Kontext“ brüllt es mir.

Ich klappe den Laptop zu, ziehe mich an und laufe in die unangenehme, feuchte Kälte hinaus. Die Schwere in den Gelenken wird leichter. Die Anspannung in meinem Kiefer löst sich, der Fluss in mir wirft leichte Blasen unter der Eisdecke.
Ich laufe vorbei an der Schule, in der ich Kämpfe mit meinen Lehrern ausgetragen habe, mich verliebt und wieder entliebt habe. Vorüber an der Ecke, an welcher mir der erste Liebeskummer meines Lebens verpasst wurde. Ich laufe vorbei am Magnolienbaum, der im Frühling immer als erstes blüht und bereits dicke Knospen hat.
Im Dezember - als wüsste er etwas, das ich vergessen habe.
Ich laufe und laufe, vorbei an der Bar, welche zehn Jahre lang als Treffpunkt für alle schrägen und nicht so schrägen Vögel des Ortes galt – wo lokale DJs ihre besten Sets auflegten und die Kulturszene weiter formten. Der kleine Laden steht gleich neben der Kirche.
Zufall oder Zeichen? Der Laden diente als Zufluchtsort für alle und alles – etwas das die Kirche längst vergessen hat zu sein.
Er bot einen warmen Kontrast zur Kälte der Institutionalisierung und ist es nicht das, was den Unterschied ausmacht?
Wenn Kreativität versteinert, erlischt das Leben und wo vorher Rhythmus war ist jetzt nur noch kalter, sich ständig wiederholender Takt. Tick. Tick, Tick.
"Kontext" echot es in mir.
«Lebendige Kultur lädt zur Teilhabe ein.»
Ich laufe weiter, so lange, bis ich am Brunnen in der Mitte der Stadt ankomme.
Ich erinnere mich an die Räbeliechtli-Umzüge, welche ich als Kind so mochte.
An die spezielle Stimmung, welche sich über alles legte, wenn sich die ganze Stadt um den Brunnen versammelt hat, um gemeinsam ein Lied zu singen, welches Generation um Generation weitergegeben wurde.
Daran, wie die Laternen alles in ein warmes, sanftes Licht getaucht haben. An die Stille die sich über alles gelegt hat, bis einer zum Gesang anhob und nach und nach alle mit einstimmten.
Daran, dass dieser unscheinbare Brunnen, für einen Moment zum Mittelpunkt der ganzen Welt wurde.
Ich denke an die Magie, wenn Menschen zusammenkommen um sich gemeinsam daran zu erinnern, dass das Leben immer gewinnt. So grau die Aussenwelt auch aussehen mag, so kahl die Bäume ihre Äste in den fahlen Himmel strecken, so stark pulsiert das Leben in ihren Wurzeln.
Lebendige Kultur lädt zur Teilhabe ein, sie ruft einem zu: „Hier schlägt ein Herz. Hier ist Rhythmus. Hier ist Musik. Tanz mit.“
«Das Gefühl der Zugehörigkeit - wie eine Decke legt sie sich um meine Schultern.»
„Kontext“ sage ich und lächle, weil der Mann, der an mir vorbeiläuft mich verdattert ansieht. Als ich sehe, dass er auch lachen muss, bin ich zufrieden.
Ich drehe mich um und spaziere langsam nach Hause. Beruhigter und besser in der Lage, meine Gedanken zu ordnen.
Die KI – wie können wir mit ihr umgehen? Sie ist da, und wird es wahrscheinlich auch bleiben.
Die Digitalisierung und der technische Fortschritt hat eines der mir liebsten Musikgenres mit geformt - hat elektronische Musik erst möglich gemacht.
Digitalisierung ist zu einem Teil der Kultur geworden und so lebensfern sie scheint, steht dahinter doch ein kreativer Geist, welcher über das Werkzeug – über die Form generell – hinausgeht.
Und was ist mit meiner Kunst?
Soll ich sie einschliessen, für mich behalten, verkaufen?
Gehört meine Kunst mir und hat sie einen Preis?
Wie soll ich etwas bewerten, dass ich liebe?
Ich schreibe, um des Schreibens willen. Ich schreibe, um etwas zu teilen - es ist ein Geschenk.
Auch mir hat die digitale Welt es ermöglicht, dieses Geschenk mit vielen anderen Menschen zu teilen.
Bin ich deswegen von ihr abhängig? Ich denke nicht!
Menschen haben immer Wege gefunden, das was sie bewegt mit anderen Menschen zu teilen. Sie haben gelernt, sich den Umständen anzupassen. Das ist unsere Superkraft.
Die gefühlte Ohnmacht und Wut hinsichtlich der KI in der Kunstwelt ist nachvollziehbar und ich fühle sie auch, aber ich möchte einen kleinen Perspektivwechsel anbieten:
Erst einmal ist nicht die KI generell das Problem. Ich erlaube mir hier einen kleinen Rant über die Tech-Bros, welche dahinter stehen.
Wer keine Faser an Mitgefühl in sich trägt, hat auch kein Gefühl für das Leben an sich. Dies ist keine Frage von Glaubenssystemen - hier wäre Dialog noch möglich - sondern eine komplette Abspaltung von Emotion. Teilhabe ist für sie kein zirkuläres, sondern ein hierarchisches System, welches von Kontrolle und Angst geprägt ist. Nach dem Motto; "Ich muss ganz viel haben - alles haben, auch wenn du am Ende nichts hast." Damit wird das Wort Teilhabe in seiner Bedeutung pervertiert.
Wo ein System sich selbst abspaltet, sich nur noch nimmt, was es will und nicht, was es wirklich braucht, wird es nicht mehr natürlich genährt sondern lebt parasitär und vegetiert vor sich hin, bis es sich seiner eigenen Lebensgrundlage beraubt hat.
In sich ziemlich unintelligent.
Die KI, in ihrer aktuellen Form, ist die Konsequenz dieser Abspaltung.
Was die KI demnach, im aktuellen System nicht haben kann ist einen Kontext.
Sie empfindet nicht, verkörpert nicht, reflektiert nicht, fühlt nicht.
Sie liebt nicht, hasst nicht. Sie weiss nicht, was Wut ist, oder Ohnmacht.
Sie kennt keinen Schmerz und keine Freude.
Sie hat noch nie eine Träne geweint oder über einen Witz gelacht.
Sie kennt keine Ambivalenz oder Doppelbedeutungen.
Wo sie in der Lage ist, Emotionen in uns zu wecken, so ist dies abhängig von unserem Kontext.
Sie erschafft nicht, sie drückt nur Knöpfe. Unsere Emotion ist in diesem Fall auch nur reaktiv und nicht schöpferisch.
Wenn wir uns Zeit nehmen, und alles was wir hören und sehen in einen Kontext setzen, wird von KI produzierte Kunst, insbesondere Musik, von den meisten Menschen sofort erkannt.
Etwas in uns lehnt sie ab, empfindet sie als unnatürlich und seelenlos. Sie ist uninspiriert und irgendwie flach.
«...doch auch hier; Kontext ist der Schlüssel.»
Es gibt viele wunderbare Kunst- und Kulturschaffende, welche immer wieder mutig in die Welt bringen, was sie durch mühevolle kreative Blockaden gerettet, in Anfällen von kreativen Schüben zusammengeschustert, im Zweifel wieder verworfen oder durch Disziplin und Hingabe erschaffen haben.
Solche Kunst lebt und atmet, sie erzählt uns etwas, sie verbindet oder kritisiert, sie weint oder wütet, sie hasst oder liebt, sie kann uns gefallen oder nicht, aber sie ist nie seelenlos oder nichtssagend. Sie regt dazu an, weiter zu denken, formt und definiert mit, was Kultur bedeutet und erfindet sich in ihr immer wieder neu.
Kunst ist immer Dialog und mit am wichtigsten; Kunst bricht Regeln.
An der Oberfläche mag es vielleicht so aussehen, als sei die KI auf bestem Wege, sich auch noch die Kunst gänzlich einzuverleiben doch auch hier, Kontext ist der Schlüssel.
KI ist darauf ausgelegt, Ergebnisse zu liefern, und dies unter Zuhilfenahme unglaublich grosser Datenströme an Informationen.
"Wie sieht es aus, was bringt es ein" ist die Prämisse, unter welcher Tech-Firmen operieren und dieses Mass allein bestimmt den Wert. Wenn wir hier ein rein ergebnisorientiertes Narrativ als Kontext nutzen, stimmt die obige Aussage und alles, was einmal produziert wurde, ist automatisch dazu verdammt auf dem Wühltisch zu landen, wo vermessen, bewertet und ausgebeutet wird, so lange, bis es komplett ausgeblutet wurde. Der klassische Loop-Effekt entsteht und ein einst starkes System frisst sich selbst auf.
«An welchem Ende stehen wir also?»
Kreativität hingegen, und damit auch kreative, inspirierte, lebendige Kunst, ist Prozessorientiert. Sie kann in Teilen ebenfalls vermessen und bewertet werden. Und einige Teile landen vielleicht auf dem Wühltisch und werden vielleicht sogar für kapitalistische Zwecke ausgebeutet.
Der grosse Unterschied ist aber; weil sie weniger aus dem Wunsch nach Ergebnissen entsteht, sondern viel mehr auf den Prozess ausgerichtet ist, bleibt sie dynamisch und der Geist, die Idee dahinter bleibt erhalten.
Sie inspiriert das Gegenüber, anzuknüpfen und wiederum weiter zu geben. Nicht die Form ist hier ausschlaggebend, sondern die Bewegung - der Wert ist somit unabhängig vom Ergebnis.
So entsteht Kultur und eine Kultur, welche sich den kreativen Geist bewahrt und flexibel bleibt, bleibt auch lebendig.
Vielleicht ist es diese Idee, mit welcher man Unsterblichkeit grob umschreiben könnte.
Lebendige Kultur ist "nicht Anbetung der Asche sondern Weitergabe der Flamme".
Ironischerweise ist nicht ganz klar, wer der Urheber des Zitats ist.
Auch wenn KI Prozesse durchaus optimieren kann, hat sie überhaupt keinen Bezug dazu. Der Künstler hingegen ist immer in den Prozess eingebettet. Wo sich seine Schöpfung entwickelt, entwickelt er sich mit und umgekehrt.
An welchem Ende stehen wir also?
Die Möglichkeit, die KI zu trainieren, ist eine Möglichkeit für uns, nährenden Input zu generieren. Das setzt Akzeptanz, Achtsamkeit und Neugierde voraus.
Was passiert, wenn wir uns nicht, so wie oft erwartet und ziemlich sicher auch kalkuliert, ans Ende stellen - wo man potenziell entweder Nutzniesser oder Opfer des Outputs ist, sondern uns als dynamische, in den Prozess eingebundene Individuen verstehen? Wir wären vielleicht erstaunt, was sich noch alles entwickeln kann.
Auch in einer Zeit, in welcher eine Künstliche Intelligenz existiert und wir noch nicht einmal wissen, womit wir es wirklich zu tun haben.
Die Frage sollte vielleicht nicht zwingend sein, ob wir die KI überleben, sondern ob und wie wir mit ihr leben können.
Und gerade, als ich diesen Text beenden möchte, höre ich das wunderbare Intro von Fatboy Slims „Right here, Right now“
Auf dem Cover ein Typ mit einem T-Shirt auf dem steht "I`m #1 so why try harder?"
Gesellschafts- und systemkritisch? Ganz sicher!
War er seiner Zeit voraus? Vielleicht!
Was hat sich seither verändert? Vieles!
Und doch, sind wir noch da - right here, right now!
LINKS: INSTA SARANDA
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