RHAPSODIEN 002 - Teil II
- 10. Nov.
- 8 Min. Lesezeit
Über Chaos, Physikexperimente und die Frage, wo alles angefangen hat.
November 2025
Sarandas Kolumne erzählt musikalische Geschichten aus ihrem Leben. Alltag, aber nicht alltäglich!

Zugegeben, es ist gar nicht so leicht, einen Teil II zu schreiben, wenn die Idee dazu, welche bei Teil I so klar war, irgendwo verstreut auf zig Notizzetteln auf dem Tisch herumfliegt...
Während sich mein Gegenwarts-Ich aufregt und auf Ordnung und Struktur pocht, rollt mein Vergangenheits-Ich nur mit den Augen und hält wortlos ein Schild hoch, auf dem geschrieben steht:
«Auch das Chaos gruppiert sich um einen festen Punkt, sonst wäre es nicht mal als Chaos da.»
- Arthur Schnitzler
Ich gebe mich geschlagen, auch weil ich wenig Lust verspüre, die Notizen zu ordnen – soll sich doch Zukunfts-Ich ums Aufräumen kümmern.
Ich liebe Anfänge und habe gleichzeitig wahnsinnige Angst davor!
Anfänge sind potenziell chaotisch und doch, bergen sie bereits den Kosmos in sich. Ein Muster, eine Struktur und vor allem Bewegung.
Chaos und Kosmos werden in der Philosophie als inhärente Gegensätze verstanden, welche sich aber auch bedingen.
Wo kein Kosmos, da kein Chaos und vice versa. Der philosophische Ansatz macht auf einfache Weise auf das duale und zeitgleich universelle Prinzip der Natur aufmerksam und reiht sich damit ein in die zahlreichen Versuche, die Natur und unseren Platz darin irgendwie zu begreifen, zu ordnen und zu erklären.
Wir bewegen uns unaufhörlich zwischen Identität und Kollektiv, zwischen innen und aussen, zwischen Chaos und Kosmos hin und her.
Wenn man sich das bildlich vorstellt, kommt man nicht umhin es wie einen Tanz zu begreifen. Selbst kleinste Teilchen tanzen durch den Raum. In einem binären System würde dies bedeuten, Information bewegt sich ständig zwischen 1 und 0 hin und her,
zwischen hier und nicht-hier.
Oder wie mir das ein IT-Kollege mal erklärt hat, als er meinen Laptop repariert hat;
Der Schalter ist entweder an oder aus!
Aber wenn das so ein universell beobachtbares Prinzip ist, woher kommt es dann - was war am Anfang?
In allen bekannten Schöpfungserzählungen der Welt, wird der Anfang der Schöpfung mit dem Klang, dem Wort oder mit einer Trommel initiiert. Es beschreibt, dass Ordnung und Rhythmus in die Sache kommt. Etwas fassbares und strukturiertes, dass noch nicht sichtbar, aber bereits im Gange ist.
Wenn Klang entsteht, breitet er sich in Wellen aus – Wellen sind etwas sequenziertes. Man stelle sich einen Stein vor, den man in einen ruhigen See plumpsen lässt – das Muster breitet sich um einen Mittelpunkt herum, gleichmässig in alle Richtungen aus. Wobei das Tal der Welle den „Aus“ Zustand, der Wellenkamm den „An“ Zustand definiert.

Dasselbe gilt für eigentlich alle Bewegungen, vom Zustand eines subatomaren Teilchens, dem Vorgang des Atmens, bis zu den Bewegungen einer Schlange, oder eines Flusses, sie mäandern in gleichmässigen Abständen durch die Landschaft, bewegen sich rhythmisch, sequenziert, geordnet, berechenbar.
Menschen lieben Berechenbarkeit, weil es uns einen Platz im Raum zuteilt und uns Sinn und Ordnung gibt. Doch ich glaube, das ist nur die halbe Wahrheit.
Der Zustand des „hier“ und „nicht-hier“ wurde in den bald 6000 Jahre alten vedischen Schriften wie folgt als zwei Seiten ein und derselben Sache, an die Schüler ebendieser Schriften vermittelt; neti neti (nicht das, nicht das) und „tat tvam asi“ (ich bin das).
Das Hohelied aus dem alten Testament beschreibt es, neben zahlreichen anderen Beispielen, in einem wunderbaren Vers, in dem eine Frau ihren Geliebten besingt mit den Worten „Mein Freund ist rot und weiss.“ worin ich symbolisch das Leben (rot) und den Tod (weiss) in einer einzigen Person beschrieben sehe.
Ganze Psalmen sind auf diesem Prinzip des Paradox, oder des „nicht das, nicht das“ und „ich bin das“ aufgebaut.
Es sind immer Aussagen der Verneinung wie der Bejahung, der Definition und der Nicht-Definition, und keines der beiden kann man getrennt voneinander lesen oder begreifen. Was definiert wird, muss auch dessen Gegendefinition beinhalten und wo es das nicht tut, da ist es nicht vollständig oder in der alten Sprache ausgedrückt, nicht „heilig“.
Natürlich ist das ganze in eine Reihe komplexer Systeme eingebettet und man muss alles immer im Kontext betrachten, denn fast alles wurde später moralisch sowie politisch gekapert, dennoch kommt man nicht an den wunderbaren Schriften, Liedern und Erzählungen der alten Völker vorbei. Wir tun ihnen unrecht, wenn wir sie schnöde als Ammenmärchen abtun.
«Was definiert wird, muss auch dessen Gegendefinition beinhalten, und wo es das nicht tut, da ist es nicht vollständig...»
War am Anfang also alles?
Aus Rhythmus und Klang hat sich das entwickelt, was wir heute Musik nennen und was schon seit jeher Teil der Folklore, der Identität und selbst der Medizin aller Völker rund um den Erdball war.
Die Musik drückte das Verständnis darüber aus, dass alles einem Rhythmus gehorcht. Vom Herzschlag, über den Atem, bis hin zur Sonne, dem Mond und den Sternen. Und ich wage an dieser Stelle zu behaupten; sie tut es noch!
Früher wie heute, wurden Geschichten in Liedern weitergegeben, den Kranken und einsamen wurde Musik vorgespielt usw. Musik ist nicht nur Unterhaltung, sondern vor allem ein Instrument der Erinnerung und der Übersetzung von etwas unbegreifbarem in etwas greifbares. Sie ist formgebend und prägt uns nicht nur mental, sondern bezieht den Körper als ganzes System mit ein.
Die moderne Wissenschaft übersetzt dies nun wieder in eine andere Sprache und versucht, anhand von Experimenten oder Forschung, ebendiese alten Behauptungen zu widerlegen oder zu beweisen, was jedoch den Umstand, dass Rhythmus lebenswichtig ist, nicht weniger relevant macht. Ob man ihm nun in der Sprache der Mythen, der Künste oder der Wissenschaft Rechnung trägt - wo die einen verneinen, bejahen die anderen, wo die einen von Tanz sprechen, sprechen die anderen von Kampf. Es ist ein immerwährendes hin und her.
Die kurze Exkursion in die Schöpfungsmythen und die Dialektik zwischen Mythos und Wissenschaft lässt mich an ein Experiment denken im „Stillsten Raum der Welt“. Beim stillsten Raum der Welt handelt es sich um einen schalltoten Raum der 99.99% aller Geräusche absorbiert. Ich finde den WELT-Artikel aus dem Jahr 2013, welcher beschreibt, wie es sich anfühlt in diesem Raum zu sein. Fazit des Artikels ist es, dass es kaum lange auszuhalten sei, weil man sich nach kurzer Zeit völlig isoliert fühle.
Ein Gefühl der Isolation stellt sich demnach ein, so denke ich, wenn man sich nicht eingebettet fühlt - keinen Rhythmus hat, welcher einen in einen übergeordneten Rhythmus einbindet.
«Die Musik drückte das Verständnis darüber aus, dass alles einem Rhythmus gehorcht.»
Stille ist also nicht gleich Stille, oder zumindest nicht das, was wir als Stille wahrnehmen. Was mich dazu bringt zu fragen, ob Klang zwingend harmonisch sein muss, und wenn ja, was empfinden wir als harmonisch und ab wann wird es zur Disharmonie und wie definieren wir diese beiden Zustände?
Physiker erklären dies anhand von zahlreichen Experimenten.
Es gibt die etwas komplexeren, wie das Doppelspaltexperiment, welches grob den Zustand oder Nicht-Zustand eines Teilchens beschreibt, welches den Zustand erst definieren kann, wenn es beobachtet wird. Wird es nicht beobachtet, also nicht definiert, kann es überall und alles sein, zur gleichen Zeit. Das heisst, Potenzial ist unendlich vorhanden und weil in diesem Experiment Teilchen auf einmal das Verhalten einer Welle an den Tag legten, könnte man sie theoretisch ebenso auf die Streuung von Frequenz anwenden.
Es gibt aber auch etwas einfachere, wie die Experimente mit Stimmgabeln. In diesem wird gezeigt, dass nur Stimmgabeln mit ähnlicher oder derselben Frequenz zusammen schwingen können. Durch Anschlagen einer Stimmgabel wird eine zweite Gabel zum Schwingen gebracht. Haben sie sehr unterschiedliche Frequenzen, passiert nichts.
Besonders das Stimmgabel-Experiment veranschaulicht, was Harmonie bedeuten kann.
«Halten wir es aus, dass das Absolute beides zugleich ist?»
Wer hat schon einmal in einem Wald gesessen und der Stille gelauscht? Da war sicher Vogelgezwitscher, Rascheln von anderen Tieren oder das Rauschen des Windes in den Bäumen. Der Rhythmus all dieser Geräusche hat uns also unbewusst darauf hingewiesen, dass wir uns in einem sicheren Umfeld befinden, wo aktuell gerade nichts ist, was uns schaden könnte. Wieso wissen wir das? Weil etwas sehr altes in uns weiss, dass wo Vögel zwitschern, kein Jäger herumschleicht, der uns fressen könnte. In sich ist es also nicht absolut still im Wald, aber aufgrund der verschiedenen Rhythmen, welche sich auf harmonische Weise gegenseitig überlagern, zu unseren natürlichen Rhythmen passen und uns somit in ein grösseres, ganzes mit einbeziehen, nehmen wir das als Stille wahr. Nun, wer hat dies schon je bewusst wahrgenommen und wirklich darüber nachgedacht? Wahrscheinlich die wenigsten!
Wir glauben zu wissen, was absolute Harmonie und Disharmonie bedeuten, aber tun wir das wirklich? In Bezug auf Klangwellen oder Frequenzen ist absolute Disharmonie destruktiv, absolute Harmonie, also der absolute Gleichklang, jedoch auch, denn Wellen derselben Frequenz löschen sich irgendwann einfach gegenseitig aus.
Harmonie und Disharmonie sind also beides messbare Zustände, welche aber zeitgleich davon abhängen, ob überhaupt und womit man misst und wie sie zusammenspielen.
Beide Zustände sind demnach per Definition nicht zu trennen.
Halten wir es aus, dass das Absolute beides zugleich ist? Etwas und nichts, hier und nicht-hier?
Dasselbe gilt für die Musik – Musik ist subjektiv entweder harmonisch oder disharmonisch, das heisst, wir definieren immer einen der beiden Zustände.
Genial wird sie aber erst dann, wenn harmonische und disharmonische Klänge nebeneinander her gehen, sprich; sich gegenseitig beschleunigen und sich gewissermassen gemeinsam in einen neuen Zustand begeben.
Hat das nicht etwas schöpferisches?
Nun, ich will nicht zu sehr in die Tiefen der physikalischen Strukturen des Klangs abgleiten. Schliesslich bin ich eine Poetin. Doch weil ich beides liebe, sowohl die Welt der Mythen und Geschichten, wie auch die grandiosen wissenschaftlichen Erkenntnisse, will ich mich in die Mitte begeben, in den Raum dazwischen, dorthin, wo beides zu einem Ganzen wird.
Viele Menschen kennen diesen Ort, nehmen ihn aber nicht bewusst wahr. Die kreativen Köpfe unter uns, wagen sich schon mal dahin, oder suchen ihn sogar, denn dort sind Chaos und Kosmos reine Kreativität, reines Potenzial, noch formlos, noch nicht identifiziert, etwas, was nicht einfach zu erklären ist - ich will es, mit meinem begrenzten Wissen, dennoch versuchen:
Was Wissenschaft und Mythos meiner Meinung nach gleichermassen aufzeigen ist, dass Harmonie oder Disharmonie nur relativ messbar oder wahrnehmbar sind, also nur in Bezug aufeinander.
Klang ist also in seiner Natur dual, da er nur in Relation zu etwas anderem existieren kann. Der Dritte im Bunde ist somit der Raum, indem all das stattfinden kann. Alles ist auf Beziehung ausgelegt.
«Jeder Mensch, ob bewusst oder unbewusst, kennt den Zustand des Paradox.»
Die Buddhisten kennen ein Koan dazu, welches genau diese Frage stellt: „Wenn im Wald ein Baum umfällt, und niemand da ist, der es hört, macht er dann ein Geräusch?“.
Unser Gehirn ist darauf spezialisiert, Klang und insbesondere Rhythmus wahrzunehmen und sich darauf zu fokussieren – es kann ohne Rhythmus nicht leben, es wäre im Ausnahmezustand denn es könnte sich im Raum nicht mehr positionieren, es gäbe keine Stabilität und somit auch kein Ich. Wir halten diese Zustände nur sehr begrenzt aus.
Und ziemlich schnell sind wir wieder bei Chaos und Kosmos. Es gibt viele philosophische Abhandlungen und Erklärungsmodelle dazu.
Für mich sind Chaos und Kosmos Zwillinge oder Geschwister und auch anhand dieses Beispiels kennt man überall auf der Welt mindestens einen Zwillings- oder Geschwistermythos und sie stellen alle dieselbe Frage:
Gäbe es ohne „Du“ ein „Ich“, ohne „Nichts“ ein „Das“?
Die Mathematik würde an dieser Stelle fragen, gäbe es ohne die 0 die 1?
Jeder Mensch, ob nun bewusst oder unbewusst, kennt den Zustand des Paradox. Schöpfungszustände sind per se paradoxe, noch undefinierte Zustände. Jeder, der schon einmal kreativ gearbeitet hat, oder sich im Liebesspiel komplett verloren hat, kennt den Ausnahmezustand – nämlich den, indem er spürt, dass etwas ihn überkommt, und er in etwas grösserem aufgeht. Viele Menschen schrecken zurück vor diesem Zustand, denn er erlaubt noch keine Definition – auch nicht des Selbst.
Was war also am Anfang oder wo finden wir ihn?
Anfänge sind ein Ort der Geburt und des Todes. Zur Gänze schöpferisch. Ein Ort, nicht schwarz, nicht weiss, nicht dunkel, nicht hell, nicht Ich und nicht Du. Ein Ort, den wir nicht verstehen können und doch, tropft unaufhörlich ein bisschen von dieser schwer zu begreifenden Weisheit in unsere Welt.
Deswegen stellen Menschen Fragen, deswegen entstehen Kunstwerke und deswegen sucht jeder Mensch den Ausnahmezustand und scheut ihn gleichermassen.
Die Mathematik versucht sie, mittels der Infinitesimalrechnung sichtbar zu machen, einer Art der Mathematik, welche nur noch mit Gleichungen, also ebenfalls relativ, funktioniert. Die Literatur, die Musik und die Poesie kennt zahlreiche Beispiele, eines davon im Ausspruch Goethes „Der Augenblick ist Ewigkeit“, ein anderes vom persischen Dichter Rumi, aus dem Gedichtband "Der grosse Diwan", welches von "NU" im Song "Earth" so wunderbar umgesetzt wurde.
Der Wunsch des Menschen, etwas von diesem "Göttertrank" in diese Welt zu übersetzen ist für sich schon eine grossartige Sache und verbindet uns am Ende alle - die Erkenntnis, dass Ewigkeit nur von Augenblick zu Augenblick erlebbar wird.
Ich tue also eines der Dinge, von denen ich weiss, das sie mich im Raum verorten und mich gleichzeitig daraus emporheben: Ich mache Musik an und tanze um den einen festen Punkt.
Auch wenn ich ihn nicht finden kann - er findet mich!
LINKS: INSTA SARANDA
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